ORT: Klenzestrasse
(von Max R.)  
 
HANDLUNG: EIN NEUES STÜCK … 
 
Es ist kurz vor 20:00 Uhr, als ich unseren Probenraum erreiche – etwas missgelaunt, der Tag im Büro brachte heute nur Ärger. Noch um 19:30 Uhr habe ich mit dem Gedanken gekämpft, die Probe zu schwänzen. Doch meinen Pultnachbarn Berndt alleine gegen die ganze Orchestermeute antreten zu lassen, habe ich irgendwie nicht  fertig gebracht.
 
Als ich eintrete, ist erst die Hälfte des Orchesters spielbereit, und doch sehen sie mich an, als ob sie nur noch auf mich gewartet hätten. Bei dem Versuch meinen Pultplatz zu erreichen, werfe ich – fast schon gewohnheitsmäßig – einen Notenständer um. Kurz nachdem ich endlich sitze, beginnt die Probe mit einen „Einspielstück“. Mein Akkordeon ist eiskalt und dementsprechend schräg klingen auch die höhen Töne. Unsere Dirigentin schaut mich strafend an. Jede Verteidigung, so weiß ich, wäre sinnlos. Beim dritten Versuch dürfen wir – Berndt und ich – das Orchester ganz alleine unterhalten. Aber uns macht das überhaupt nichts aus. Durch die freie Interpretation eines Laufes gelingt es uns das Orchester zu wahren Erheiterungsstürmen hinzureißen. Die Chefin gibt es auf – mit einem „aber beim nächsten mal“ werden wir entlassen.
 
Als wir uns vorsichtig in das neue Stück „hinein tasten“, klingt es aus der ersten Stimme, als würde man einem Rudel Katzen auf den Schwanz treten. Dies inspiriert die Schlagzeugtruppe dazu, laut mitzumiauen. Nach fünf Minuten, in denen der ersten Stimme die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben ist, und bei dem Rest der Truppe anhaltendes Gelächter ausbricht, verbunden mit scherzhaften Bemerkungen, kann man die Melodie in ersten Ansätzen erkennen.
 
Da der Part der dritten Stimme in diesem Stück sehr leicht ist, können wir die übrigen Orchestermitglieder gut beobachten. Immer, wenn z.B. die zweite Stimme Läufe zu spielen hat, kann man es am verbissenen Gesichtsausdruck der Spieler ablesen. Der Kopf wird leicht schräg gelegt, und die Zähne werden gefletscht, was aber in den seltensten Fällen etwas nützt. Bei einer gefälligen Notenpassage beschleunigen wir das Tempo, natürlich ohne Einverständnis aus Dirigentenetage. Der Abbruch erfolgt kurz nach der Kapitulation der vierten Stimme, nur wenig vorher hat sich der Bass schon verabschiedet. Bei der anschließenden Schelte ist im Kollektiv auf uns eingeschimpft worden. Die größte Abreibung aber kommt von der Dirigentin. Sie nützt die Gelegenheit, uns an die Sünden der letzten drei Jahre zu erinnern.
 
Geläutert gehen wir das Finale an. Da wir es diesmal besonders gut machen wollen, einigen wir uns, via Augenkommando, auf unser Spezialregister „VR“ (volles Rohr = Master). Berndt legt sich hinein, als wolle er das Akkordeon auseinanderreißen. Undeutlich wird uns vom Regiepult etwas zugebrüllt; doch da wir es nicht verstehen, deuten wir es als Anfeuerung. In unseren Klangwolken versinkt der Rest des Orchesters. Selbst das Elektronium wird nur noch als leises Säuseln wahrgenommen. Leicht ermattet blicken wir nach dem Schlussakkord auf. Ein Blick in die Runde überzeugt uns. Dass wir in der heutigen Probe den Laut-Spiel-Wettbewerb mit Abstand gewonnen haben. Genüsslich lächelt Berndt mich an, während wir unsere Instrumente zusammenpacken. Meine anfänglich schlechte Laune hatte sich in den letzten zwei Stunden gewandelt. Zufrieden und in bester Stimmung lassen wir den Abend in feucht-fröhlicher Runde ausklingen. Abschließend bleibt festzustellen, dass kein noch so gutes Kino- oder Theaterprogramm an den Unterhaltungswert einer Orchesterprobe mit Neueinstudierungen heranreicht.